Vielleicht sollten künftig Ministerpräsidenten ohne Twitter-Account immer und überall nachweisen, dass von ihnen keine Gefahr ausgeht.
Der Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki sagt, dass eine Aufarbeitung der Corona-Jahre dringend nötig ist. In der Berliner Zeitung hat er das begründet. Die Rolle der Medien und des RKI müsse kritisch beleuchtet, die politische Krise parlamentarisch aufgearbeitet werden.
Warum hielt es ein großer Teil der politischen, medialen, gesellschaftlichen Eliten für geboten, von Einzelnen eine solche Geste der erzwungenen Unterwerfung gegenüber der Mehrheitsgesellschaft zu fordern als Voraussetzung dafür, dass sie als dessen Teil wieder akzeptiert würden?
Denn dass die Ungeimpften zu Unrecht in die Rolle der Allgemeingefährder gebracht wurden, war spätestens klar, als sich die Berichte über Impfdurchbrüche häuften und die Zeitung Die Welt schlimme Mogeleien einiger Bundesländer bei den offiziellen Hospitalisierungszahlen zulasten der Ungeimpften aufdeckte. Dass dieser Umstand viele in ihrem Streben nach Vergeltung dann gar nicht mehr interessierte, sprach allen Beteuerungen Hohn, es ginge bei der Bewältigung der Pandemie um die Beachtung der Wissenschaft. In der Rückschau zeigt sich immer mehr, dass viele, die meinten, im gerechten Zorn auf Menschen zeigen zu können, eher von selbstgerechter Wut getrieben waren.
Wir haben nicht nur erlebt, dass viele Journalisten irgendwann nur noch eine coronapolitische Erzählung verteidigten, auf die sie sich einmal festgelegt hatten, anstatt der Wahrheit weiterhin auf die Spur zu gehen. Wir haben auch erlebt, dass dies politisch sogar kultiviert wurde. Die regelmäßigen journalistischen Hintergrundgespräche von Regierungssprecher Steffen Seibert an den Tagen vor den unsäglichen Bund-Länder-Runden waren dazu da, eine öffentliche Stimmung zu erzeugen, die die politische Linie Angela Merkels stützte. Journalisten machten sich damit offenbar zu Verkündern des Regierungsnarrativs und gaben ihre demokratische Aufgabe und ihre journalistische Selbstachtung an der Garderobe des Bundespresseamtes ab. Nicht nur das ist ein beispielloses Versagen, das einer Aufarbeitung bedarf.
Die Kritik ist berechtigt. Noch immer sind die Medien weit von einer angemessenen Aufarbeitung entfernt. Schließlich steht auch der Vorwurf im Raum, das die Verfassung vom gesamten Staatspersonal verraten worden sei. Das Land zeige zunehmend Züge eines korrupten Parteienkartellstaats mit repressivem Meinungsregime, meint Philosoph Michael Andrick. Übertrieben? Mag sein, zutreffend ist aber, dass die politische Agenda, je nachdem, was gerade opportun erscheint, willkürliche Züge aufweist. So hat sich der bayerische Ministerpräsident Markus Söder vom härtesten Maßnahmenbefürworter zum Verfechter der individuellen Freiheit gewandelt. Die Maskenpflicht ist im Freistaat nun abgeschafft. Der Grund ist aber nicht die Rechtsgrundlage, sie ist nur Mittel zum Zweck. Es ist die Landtagswahl im nächsten Jahr.
Umgekehrt halten Länder, wie das von Stephan Weil regierte Niedersachsen, an dieser Maßnahme wie auch an der sinnlosen Isolationspflicht weiterhin fest. Begründung ist nun aber nicht Covid 19, weil diese Erkrankung praktisch als Belastung im Gesundheitssystem gar nicht mehr vorkommt, sondern andere Infektionskrankheiten: „Wir halten es nach wie vor nicht für klug, mitten im Pandemiewinter mit weiteren Infektionskrankheiten auf Masken zu verzichten“, sagte ein Sprecher des niedersächsischen Gesundheitsministeriums. Eine Pflicht ist dann aber gesetzeswidrig, da der Paragraf 28b im Infektionsschutzgesetz vorgibt, dass Bund und Länder eine Maskenpflicht nur dann anordnen dürfen, „soweit dies zur Verhinderung der Verbreitung der Coronavirus-Krankheit und zur Gewährleistung der Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems oder der sonstigen kritischen Infrastrukturen erforderlich ist“.
Die Regierung Stephan Weil hält also an Maßnahmen aufgrund einer gefühlten Rechtsauffassung fest und stützt sich dabei auch noch auf das RKI, von dem der Vizepräsident des Bundestages sagt, es stelle politisch motivierte Zahlen für die Corona-Politik der Bundesregierung bereit. Man könnte demnach auch von einer Verbreitung von Falschinformationen und Verschwörungserzählungen sprechen, bei denen der Ministerpräsident noch voll dabei ist und die weitgehend unhinterfragt von den Medien verbreitet werden. Stephan Weil verlässt Twitter auch nicht, weil zutrifft, was er als Begründung anführt, sondern weil Elon Musk keine Autofabrik in Niedersachsen gebaut hat. Sonst hätte Stephan Weil wohl auf Twitter bleiben müssen. Da unterscheidet sich die niedersächsische Merkel nicht von dem gnadenlos opportunistischen Söder aus dem Süden.
DEZ
Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.